Kryptorchismus

Bauchhoden- Ein Erfahrungsbericht

„Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Kryptorchid!“ – „Hä? Was haben wir?“
Das kann nur ein Versprecher sein, ich kenn nur Kryptonit. Aber war Superman nicht Science Fiction, diesen grünen Stein gibt’s doch überhaupt nicht und was hat der mit meinem Mogli zu tun? Verwirrt starrte ich die Tierärztin an. „KRYPTORCHID“, wiederholte sie geduldig. „Wir haben ein Kryptorchid-Kaninchen? Ist das gefährlich?“ entgeistert schauten mein Freund und ich uns an… Was war passiert?
Drehen wir die Uhr drei Monate zurück… Ab und an geschieht es ja im Leben, dass man vorübergehend mal umziehen muss und so bin ich mit meinen getrennt lebenden Fellnasenpärchen Anfang des Jahres eben genauso vorübergehend wieder bei meinen Eltern eingezogen. Aufgrund von verständlichem Platzmangel (Kind zieht aus – Kind zieht in einer Nacht- und Nebel-Aktion wieder zurück – allerdings nun mit vier freilaufenden Kaninchen) haben Coco und Mogli dann ein Zimmer mit mir bezogen. Eddi und Emma wurden natürlich im Gästezimmer einquartiert. Bisher hatte ich mein Schlafzimmer separat von den kleinen Rackern – ergo habe ich natürlich bisher nie mitbekommen, was die Tierchen denn so machen, während ich im Land der Träume in einem anderen Raum selig schlummere. Klar, dass es nicht ruhig zuging, das bewiesen gelegentliche Umräumaktionen, der Zustand diverser Tapeten, Geräusche von Dingen, die dann nachts um drei runterpoltern, verschobene Gitter und all diese bekannten Sachen. Aber damit war es anscheinend nicht genug.
Pünktlich zur wärmenden Frühjahrssonne begannen bei meinen befellten Mitbewohnern die entsprechenden Frühjahrsgefühle. Kommt ja auch in kastriertem Hause wie dem unseren (die Damen sind natürlich ebenfalls kastriert) gern vor, dass einige Resthormone einmal durchschlagen oder sich alte Verhaltensmuster kurzfristig durchsetzen.
So machte ich mir bei den ersten zarten gutturalen Lauten meines kleinen Stehohrs auch vorerst keine Gedanken. Jeder darf einmal Frühlingsgefühle haben. Aber aus dem zarten Gegurre seitens Mogli für seine angebetete Coco entwickelte sich über Wochen etwas, was mich und meinen Freund fast zur Verzweiflung brachte. Nicht nur, dass Mogli immer besessener seine Coco verfolgte, teilweise packte er sie recht heftig mit seinen Vorderfüsschen und bekundete seine Zuneigung mehr als deutlich – von welcher Seite er sie erwischte, war ihm eigentlich recht gleich. Tagsüber waren die beiden ein Herz und eine Seele, schliefen, mampften, hoppelten, kuschelten. Aber gerade, wenn für uns die Schlafenszeit begann, legte der kleine Mann los. „Uh uh uh… uh uh uhuhuuu.“ Begleitet wurde das taubenähnliche Gegurre von einer gestresst flüchtenden Coco und einem befügelt verfolgenden Mogli. Stundenlang. Das schlug nicht nur uns, sondern auch Moglis Angebeteten auf den Magen. Nachtein, nachtaus wurden wir drei unfreiwillig becirct. Das Coco irgendwann förmlich der „Fell“-Kragen geplatzt ist und es richtig Zank gab, war eigentlich vorprogrammiert. Und nun?
Zwei Tierärzte schmunzelten bei meiner verzweifelten Anfrage und meinten, dass das nicht „unnormal“ sei und man ihn einfach lassen müsste. Ja klar, die beiden, sowie diverse andere Kaninchenfreunde hatten leicht reden, sie wurden ja auch nicht ihres Schlafes beraubt. Und ich übertreibe nicht. Selbst meine Eltern standen teilweise wirklich sprachlos da ob Casanovas lauter Zuneigungsbekundung und seiner Ausdauer, Coco wahrlich zu drangsalieren. Um sie machte ich mir natürlich am meisten Sorgen, sie war sichtlich gestresst, was bei ihr immer in Bauchschmerzen endete.
Homöopathie, Kräuter, meckern, streicheln, wegschieben – nichts. Keine Chance, Mogli zur Aufgabe zu überzeugen, dass er sicher keinen Treffer mehr landen könne und dass die ebenfalls kastrierte Coco seine Avancen keineswegs zu schätzen wusste. Und so ging es weiter, Nacht für Nacht, Woche für Woche… uh uh uhhhuuuhhh.
Ich hatte ja durchaus schon die Idee, dass bei seiner Kastration, die vor seinem Einzug bei uns stattgefunden haben soll, was schief gelaufen sein müsse, aber mir wurde tierärztlich versichert, dass das unwahrscheinlich ist und auch per Ultraschall nichts zu kontrollieren sei – und dass ich doch einfach warten solle, das würde sich wieder legen.
Beim Nachimpftermin, diesmal bei einer weiteren Tierärztin, sprach ich als letzten Versuch das Thema Mogli und seine Libido an. Die Tierärztin tastete und drückte und tastete. Die Helferin hielt Mogli die Hinterbeinchen auseinander, die er pikiert zusammenpressen wollte und auch ich guckte gerade interessiert meinem kleinen Weiberhelden unters Röckchen… Moglis Augen weiteten sich immer mehr und sein Missmut ob der unwürdigen Haltung wurde immer deutlicher, vor allem als die Tierärztin noch konstatierte: „Was willst du eigentlich Fetzobär, andere Kerle zahlen Geld dafür, dass drei Weiber an ihnen rumfummeln?“ Da geschah es endlich: „Ahaaa – ich spür was: Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Kryptorchid!“
„Hä? Was haben wir?“
Und da sind wir, wieder am Anfang der Geschichte – ich zitiere:
Kryptorchismus: Entsprechend der griechischen Bedeutung von kryptos (verborgen) ist der Hoden nicht auffindbar. Er liegt in der Regel im Bauchraum – Retentio testis abdominalis oder Nondescensus testis („Bauchhoden“). Davon muss eine fehlende Hodenanlage, die Anorchie, abgegrenzt werden.
Aha. Wahnsinn! Was wir nicht alles haben. Also gut – mal wieder eine OP angesagt, wir sind ja nicht oft genug beim Tierarzt. Glücklicherweise hatten wir endlich die Ursache für unser Problem gefunden und glücklicherweise auch für Mogli. Auch wenn vor allem männliche Leser da erst mal vielleicht nicht ganz mitfühlen können. Gerade Hoden, die nicht „normal“ entwickelt sind, bergen ein enorm hohes Risiko zu entarten. Wie bei den Weibchen der Gebärmutterkrebs hätte sich bei Mogli mit extrem hoher Wahrscheinlichkeit Hodenkrebs entwickelt. Gebärmutter, sowie innen liegende Hoden lassen sich recht problemlos entfernen, schlimmer ist es natürlich, wenn die Krebszellen bereits in andere Organe gestreut sind. Von daher ist es immer besser, solche Operationen am gesunden Tier durchführen zu lassen, als aus falschem Mitleid ein unnötiges weiteres Risiko einzugehen. Lange Rede, kurzer Sinn – Termin gemacht und ran an den Sack, äh Speck. Das Ergebnis der OP war, dass ein Hoden massiv verkrüppelt an der Leiste angewachsen war, der andere befand sich etwas verkleinert im Bauchraum.
Leistenhoden sind begrifflich vom Kryptochismus zu differenzieren – hier ist der Hodenabstieg aus dem Bauchraum bereits im Leistenkanal zum Erliegen gekommen (Retentio testis inguinalis). Der Vollständigkeit halber seien noch zwei weitere Formen von Lageanomalien der Hoden erwähnt: Zum einen die so genannten Gleithoden. Hier lässt sich der Hoden durch sanften Druck in den Hodensack verlagern, nimmt seine ursprüngliche Position im Leistenkanal aufgrund eines zu kurzen Samenstranges aber sofort wieder ein. Des weiteren gibt es noch Pendel- oder Wanderhoden. Hier befindet sich der Hoden beweglich im Leistenkanal oder im Skrotum (Hodensack).
So oder so, nicht nur wegen dem immensen Krebsrisiko ist es für eine artgerechte Kaninchenhaltung unabdingbar, Rammler zu kastrieren. Unkastriert leiden sie unter ihren Trieben und auch die leider immer wieder vorkommende absurde Idee, einem Rammler die Kastration zu ersparen, indem man eine kastrierte Häsin zu ihm setzt, grenzt durchaus an Tierquälerei, vor allem für das Weibchen.
Unkastrierte Männchen greifen sich in aller Regel heftig untereinander an und Halter verstoßen in diesen Fällen sogar gegen das Tierschutzgesetz, machen sich also strafbar. Demnach kein falsches Mitleid: schnipp, schnapp, Eier ab – und frei ist der Weg zu einem glücklichen Leben als männliches Kaninchen. Die Rammlerkastration ist mittlerweile ein Routineeingriff und das Risiko minimal. Bei bereits geschlechtsreifen Jungs sollten Sie immer eine Kastrationsquarantäne von 6 Wochen einhalten, optimalerweise werden Rammler zwischen der 10. und 12. Woche frühkastriert, damit man dem Tier diese einsame Zeit erspart.
Sollte Ihr Rammler Auffälligkeiten der genannten Art aufweisen, lassen Sie sich nicht von den Tierärzten abspeisen – bestehen Sie auf einen Ultraschall oder holen Sie sich weitere Meinungen ein. Diese Tiere sind in der Regel zwar nicht zeugungsfähig, aber ein normales Zusammenleben mit einem Partnertier ist unter dem Hormoneinfluss sicher nicht möglich.
Unser Problem war damit behoden, äh behoben (Danke Karina für diesen Running Gag) und nach einigen weiteren turbulenten Wochen, die der Hormonabbau im Körper dennoch benötigt, ist nun endlich wieder Ruhe in die Betten unserer Kaninchen eingekehrt.

Autor: Heike Mala
Quelle: www.wikipedia.de